Fünf Fragen an … Mandy Fuchs, Mathematik-Didaktikerin und Autorin

 
Frau Fuchs, was ist Ihre Philosophie des Mathematiklernens, was sind die Hauptpunkte Ihres „Numeracy“-Ansatzes? 

Wir Erwachsene haben oft ein wenig positives Bild von Mathematik aus unserer Schulzeit mitgenommen, wir erinnern uns daran als etwas Steifes, Starres, wenig Lebendiges. Dieses Bild versuche ich umzukehren und zu zeigen, dass die Mathematik ganz im Gegenteil voller Leben ist und, als Wissenschaft der Muster und Strukturen, sogar schön sein kann. Bei vielen der Mathematiker*innen, die ich kenne, habe ich beobachtet, dass sie Mathematik „spielerisch“ betreiben. Das ist ein guter Ausgangspunkt auch für Kinder: Sie entdecken und erkunden die Mathematik quasi im Spielen und im Austausch mit den anderen, aktiv und kreativ und verwenden dazu unterschiedliche Materialien.
Das ist mein Numeracy-Ansatz, den lebe ich und versuche ich, den Lernbegleiter*innen in der Aus- und Weiterbildung näherzubringen. Wobei ich die Methode nicht erfunden habe, sondern sie mir aus der Literatur erschlossen und weiterentwickelt habe. Numeracy heißt auf Deutsch nichts anderes als Alltagsmathematik, Rechnen, rechnerische Kompetenz – analog zur Literacy, die sich auf die Sprachkompetenz bezieht.
Mithilfe der verschiedenen „Werkzeuge“, mit denen wir agieren – beispielsweise Zahlen, Formen wie Würfel, Quader, Drei- und Viereck, Messgeräte wie Lineal oder Waage –, entwickeln die Kinder ihre eigenen mathematischen Kompetenzen und erkennen, in welch vielfältiger Weise die Mathematik im täglichen Leben vorhanden ist, so etwa als Form, Muster, Gewicht oder Größe.

Grundsätzlich setzt sich der Numeracy-Ansatz aus drei Teilbereichen zusammen, die aber miteinander verbunden sind:
1. Das Nutzen von „mathematikhaltigen“ Alltagssituationen, zum Beispiel: Das Kind zieht sich eine Jacke an und zählt mit, wie viele Knöpfe es dabei schließt; es nimmt sich beim Essen eine größere oder eine weniger große Portion auf den Teller und bekommt ein Gefühl für Gewicht und Menge.

2. Das Auffinden von Mathematik in Spielsituationen, beispielsweise bei Rollenspielen – Kinder lieben es ja, in Rollen zu schlüpfen; oder bei Gesellschaftsspielen bzw. beim Spielen mit Baumaterialien.  

3. Offene Lernangebote, die die Kinder mit Mathematik in Berührung bringen. Dazu können „Erkundungstouren“ gehören, wie zum Beispiel, dass die Kinder bei Touren gezielt nach Zahlen suchen; oder nach runden oder auch dreieckigen Verkehrsschildern. Die Kinder entdecken dadurch nach und nach, wie viel Mathematik in ihrer Umwelt steckt.

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Worin unterscheidet sich Ihr Ansatz von anderen Konzepten von Mathematik im Elementarbereich?

Ich möchte aus der Fülle der Konzepte drei namhafte herausgreifen.
Eines nennt sich der Situationsansatz, der von Alltagssituationen ausgeht. Der Vorteil dabei ist, dass die Themen der Kinder aufgegriffen werden und sie sozusagen nebenher etwas lernen. Nachteilig ist aber, dass sich nicht immer mathematische Lerngelegenheiten ergeben, ein Beispiel: Die Kinder spielen Kaufmannsladen – aber keines interessiert sich fürs Thema Geld. Dem Konzept fehlt es an Struktur, sodass sich bei den Pädagog*innen ein Eindruck von Beliebigkeit und Ziellosigkeit einstellen kann.

Ein weiteres Konzept ist die klassische Angebotspädagogik, bei der alle Kinder zur gleichen Zeit das Gleiche tun, beispielsweise: Wir falten Dreiecke. Das Gute daran ist, dass alle es machen, dass es ein Gemeinschaftsgefühl schafft und Struktur gibt – was für manche Kinder sehr nützlich ist. Und die pädagogischen Fachkräfte haben das Gefühl, etwas Gutes und Nützliches zu tun. Aber es ist grundlegend extrinsisch, also von außen her kommend, und instruktiv, d.h., die Kinder „konsumieren“ die Inhalte. Für eigene kreative Ideen ist kaum Platz.

Mein drittes Beispiel sind die lehrgangsorientierten Förder- und Trainingsprogramme. Positiv ist daran, dass viel Material und damit eine große Vielfalt an mathematischen Ideen zur Verfügung stehen und Rituale eingeführt werden, an die die Kinder sich gewöhnen können. Weniger gut finde ich, dass diese Programme schon zu sehr in Richtung Schule, Instruktionslernen bzw. Edutainment, sprich, die Bespaßung der Kinder, gehen. Die Mathematik braucht das auf dieser Altersebene gar nicht, sie ist von sich aus spannend genug.

Mein Numeracy-Konzept hingegen stellt ein Gleichgewicht zwischen den erwähnten Konzepten her, indem es Alltagssituationen und Spiel mit offenen mathematischen Lernangeboten verknüpft. Es orientiert sich in erster Linie an den Kindern, an ihrem Potenzial und ihren Kompetenzen. Es gibt ihnen Raum für ihre intrinsische Motivation – statt dass ihnen etwas übergestülpt wird – sowie für aktiv-entdeckendes Lernen und kreatives Problemlösen.

Ein möglicher Vorbehalt gegenüber dem Numeracy-Konzept liegt darin, dass sich die pädagogischen Fachkräfte „überfordert“ fühlen können. So manch eine*r unter ihnen trägt selbst noch ein belastendes Bild von Mathematik aus der eigenen Schulzeit mit sich herum. Daher ist auch die Weiterbildung, die ich anbiete, so wichtig. Grundsätzlich geht es ja darum, das für viele immer noch angstbesetzte Image der Mathematik zurechtzurücken, indem sie im Alltag auffindbar und darin integriert wird.

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Warum ist die Stärkung mathematischer Grundkompetenzen bereis im Vorschulalter wichtig?

Sie ist genauso Teil eines Gesamtpakets wie die Stärkung der sprachlichen, der allgemein kognitiven, der emotionalen oder der sozialen Kompetenzen: Letztlich geht es um eine stabile Förderung der Gesamtpersönlichkeit und die Schaffung eines guten Selbstwertgefühls.

Die Mathematik hat da keine Sonderrolle. Das einzige mögliche Hindernis ist, wie erwähnt, dass manche Pädagog*innen selbst noch so ein negatives Bild von der Mathematik haben.

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Wie fördert man mathematische Begeisterung in der Kindergarten-Praxis und zu Hause in den Familien?

 Ich bin ein Fan von Alltagsgegenständen und Naturschätzen: Steine, Muscheln, Zapfen, Korken, Wattestäbchen, Wäschekluppen, Münzen und vieles mehr. Jeder kennt sie, jeder hat sie bzw. kann sie sich leicht besorgen, sie kosten fast nichts und man kann Mathematik mit ihnen entdecken – einfach genial! Und die Kinder lieben es und sind hochmotiviert!

Wir setzen die „mathematische Brille“ auf und beginnen mit dem Matheforschen: zum Beispiel ein- und umfüllen, wie viel von dem und dem geht in die Schachtel hinein; oder wir gestalten Muster und legen Formen aus; wir messen, bauen und stapeln und ordnen alldem Gewichte, Mengen, Größen oder Zahlen zu. Beispiel: Ein Muster aus Wäschekluppen wird gelegt, und es wird gefragt, hast Du mehr gelbe oder mehr blaue Kluppen? Oder: Wie könnte Dein Muster weitergehen? Oder beim Einfüllen von Kastanien in Becher und Dosen wird gefragt: In welches Gefäß passen wohl die meisten Kastanien? Zähl mal!

Das Wichtigste dabei ist, dass wir Impulse geben und die Kinder dann von sich aus in die Interaktion treten.

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Wie sollen Pädagog*innen und Eltern vorgehen, wenn sie merken, dass ein Kind kein*e „begeisterte*r Matheforscher*in“ ist, sondern eher Schwierigkeiten im Umgang mit Zahlen, Formen, Mustern usw. hat?

Mein Tipp ist, bleiben Sie entspannt, machen Sie kein Drama daraus. Das darf so sein. Finden Sie stattdessen heraus, in welchen anderen Bereichen die Potentiale des Kindes liegen. Die Pädagogin und Therapeutin Joëlle Huser sagt treffend: „Wer Stärken stärkt, schwächt die Schwächen und beglückt“.

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Dr.in Mandy Fuchs ist Mathematik-Didaktikerin, Referentin und Autorin. Sie ist seit mehr als 20 Jahren Dozentin in der akademischen Ausbildung und beruflichen Fortbildung von Lernbegleiter*innen im Elementar- und Primarbereich. Ihre Schwerpunkte sind u.a. die Entwicklung und Erprobung mathematischer Lernkonzepte zur Förderung von Kindern in heterogenen Lerngruppen sowie die Diagnostik und Förderung von Vor- und Grundschulkindern mit einer potentiellen mathematischen Begabung.

Buch: Alle Kinder sind Matheforscher – Frühkindliche Begabungsförderung in heterogenen Gruppen, Friedrich Verlag