5 Fragen an Veronika Lippert, Obfrau der Elternwerkstatt

Frau Lippert, aus Ihrer eigenen Erfahrung als Mutter von drei Kindern sowie aus Ihrer Arbeit in der Elternwerkstatt her gefragt: Beobachten Sie häufig, dass Kinder „Geheimnisse“ haben – sowohl untereinander als auch für sich selbst?  

Um das dritte Lebensjahr herum setzt bei Kindern die „magische“, von Zauberwelten mitgeprägte Entwicklungsphase ein, und etwa ab vier brüten sie ihre ersten „Geheimnisse“ aus. Nur sie selbst wissen davon, und das macht es zu etwas ganz Besonderem. In diesem Alter haben Geheimnisse einen ganz eigenen Zauber. 

Ab dem Volksschulalter beginnen die Kinder dann, dauerhaftere Freundschaften zu schließen und Peergroups zu bilden. Dazu gehört auch, sich gegenüber anderen (den Eltern) abzugrenzen, und ein Mittel, das zu tun, ist, „Geheimnisse“ vor ihnen zu haben.

Woher kommt das Bedürfnis der Kinder, Geheimnisse zu haben?

Sie haben dieses Bedürfnis ganz besonders gegenüber der Welt der Erwachsenen. In diesem Alter sind die Kinder noch völlig von ihren Eltern abhängig, aber sie versuchen bereits, sich ihre eigene Welt zu schaffen – unter anderem dadurch, dass sie Geheimisse haben, zu denen die Erwachsenen keinen „Zutritt“ haben. Kinder sollen ihre eigenen Geheimnisse haben, sie sind Teil dessen, dass sie sich ausprobieren, Erfahrungen machen. Ich betrachte das als eine der vielen Etappen auf ihrem Weg in die Gesellschaft.

Die Eltern sollten es nicht persönlich nehmen, wenn ihr Kind Geheimnisse mit der besten Freundin teilt und sie selbst davon ausschließt. Sie sollten das respektieren und auf keinen Fall fordern, dass es das jeweilige Geheimnis verrät. Umso schöner – und ein echter Vertrauensbeweis –, wenn es das von selbst tut.

Würden Sie zwischen „guten“ und „schlechten“ Geheimnissen unterscheiden? Also harmlosen, bei denen das Kind sich normal und fröhlich verhält, im Unterschied zu solchen, bei denen es von etwas belastet bzw. bedrückt wirkt?

Ja, diese Unterscheidung machen wir tatsächlich. Bei den „guten“ Geheimnissen handelt es sich zum Beispiel darum, dass das Kind nicht verrät, dass es eine Überraschungs-Geburtstagstorte mitbäckt, oder welches Weihnachtsgeschenk es für die Eltern gebastelt hat. „Schlechte“ Geheimnisse hingegen sind solche, bei denen etwas Negatives eingetreten ist oder eintreten könnte bzw. bei denen Gefahr in Verzug ist.

Es gibt da eine große Bandbreite an „schlechten“ Geheimnissen von harmlos – beispielsweise, wenn das Kind etwas kaputtgemacht hat, sich aber nicht traut, es zu sagen – bis hin zu gravierend, so etwa, wenn eine Berührung durch einen Erwachsenen stattgefunden hat, die das Kind als unangenehm erlebt hat.

Was können, sollen Erziehende tun, wenn sie den Eindruck haben, das Kind trage ein „schlechtes“ Geheimnis mit sich herum? 

Es ist sehr wichtig, es darauf anzusprechen, und ihm zunächst zu erklären, dass es gute und eben auch schlechte Geheimnisse gibt. Aufmerksam und mitfühlend zuhören, das Kind emotional entlasten, nicht bewerten – damit schaffen die Erziehenden eine Atmosphäre des Vertrauens, damit es sich aussprechen kann.

Es kommt natürlich auf die Art des Geheimnisses an: Wenn Ihr Kind mutwillig etwas kaputtgemacht hat, dann sollten Sie ihm bei aller Empathie schon auch klarmachen, dass Handlungen Konsequenzen haben – etwas, das ihm später im Leben sehr nützen wird. Oder es hat Ihnen verheimlicht, dass es einen Streit mit einem anderen Kind hatte. Da würde ich empfehlen, dass es ihn selbst bereinigt, statt dass Sie die Kindeseltern anrufen. Meistens passiert genau das, aber es ist eigentlich kontraproduktiv: Wir wollen unsere Kinder ja zu Menschen erziehen, die später einmal in der Lage sind, ihre Probleme selbst zu lösen.

Gibt es für Eltern bestimmte Orientierungshilfen in der Interaktion mit ihren Kindern, auch in Bezug auf die Bewertung von deren Geheimnissen?  

Ein gutes Schema in der Kommunikation zwischen Kindern und Eltern ist die Unterteilung in einen Kinder-, einen Mitsprache- und einen Erwachsenenbereich. 

Wenn das Kind beschließt, dass es sein Spielzeugpferd rosa anmalt und den Spielzeugturm schief bauen möchte, dann bewegt es sich im Kinderbereich. Der Mitsprachebereich wiederum betrifft die Einbeziehung des Kindes in familiäre Entscheidungen, wie zum Beispiel: Was wollen wir am Wochenende unternehmen, was möchtest Du zum Abendessen haben? Der Erwachsenenbereich schließlich ist die Welt der Regeln – sowie auch der Konsequenzen im Fall von Regelbrüchen. Wobei das Besprechen von allfälligen Konsequenzen immer sachbezogen bleiben und nicht ins Persönliche, in Vorwürfe usw. abgleiten sollte.

Nehmen wir an, Sie merken, dass Ihre Tochter bedrückt ist, und sprechen sie darauf an. Nach einer Weile des Zögerns erzählt sie Ihnen, dass ihre Freundin ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten hat, dass sie Geld aus der Börse ihrer Mutter stiehlt. Oder Ihre Tochter hat beobachtet, dass die Freundin sich nach dem Essen absichtlich übergibt, sprich, sich unter Umständen in Richtung Bulimie bewegt. Ihre Tochter war jetzt in einem Zwiespalt zwischen der Loyalität gegenüber ihrer Freundin und dem Verrat eines Geheimnisses. Nun sind hier zwar zwei Kinder bzw. Jugendliche die Hauptpersonen – aber das Problem fällt eindeutig in den Erwachsenenbereich. Daher sollten Sie Ihre Tochter beschwichtigen, dass sie ihre Freundin nicht „verraten“ hat, sondern im Gegenteil ein gutes Gespür dafür hatte, dass etwas nicht stimmt. Und Sie selbst übernehmen dann den Problemfall.

Grundsätzlich sollen die Kinder lernen, die Ernsthaftigkeit von Situationen selbst einzuschätzen – andererseits fehlt ihnen aber oft noch die Erfahrung dazu. Hier sollten dann die Erziehenden – und gegebenenfalls auch eine externe fachliche Beratung – einspringen.

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Veronika Lippert ist Mutter von drei Kindern, Pädagogin, Konfliktmanagerin, Trainerin, zertifizierte Elterntrainerin mit Lizenz zum Elternseminar der Elternwerkstatt, zertifizierte Elterntrainerin mit Lizenz zu Willkommen Baby, Ausbildnerin der Elternwerkstatt und zertifizierte Erwachsenenbildnerin. Sie ist Obfrau der Elternwerkstatt, eines Vereins, der Eltern, Kinder und Pädagog*innen berät und unterstützt sowie Kommunikationstrainings, Konfliktmanagement und andere einschlägige Ausbildungen anbietet.