5 Fragen an … Ergo- und Kindertherapeutin Martina Mückler

Frau Mückler, in der aktuellen Ausgabe von Papperlapapp geht es um das Thema Wachsen und die Kindesentwicklung. Was sind deren Bausteine aus Ihrer Sicht?

„Bausteine der kindlichen Entwicklung“ – das ist zugleich der Titel eines Buchs der US-amerikanischen Ergotherapeutin Dr. A. Jean Ayres. Sie forschte viele Jahre in der Praxis über die kindliche Entwicklung und entwickelte so das Konzept der Sensorischen Integrationstherapie – an dem auch ich mich orientiere –, das davon ausgeht, dass die höheren Leistungen, die wir erbringen, eine funktionierende physiologische Basis voraussetzen.

Am Beispiel dessen, was wir gerade tun, ich rede, Sie schreiben mit: Wir haben gelernt, mit anderen in Kontakt zu treten, Sie wissen, wie Sie schreiben und Ihren Kugelschreiber handhaben, und brauchen nicht darüber nachzudenken, in welchem Winkel Ihre Finger ihn anfassen, welche Körperhaltung Sie dabei einnehmen und welche Muskeln Sie anspannen, wie Sie Ihr Gleichgewicht auf dem Stuhl halten usw.
All diese Funktionen sollten gut zusammenspielen. Verantwortlich dafür ist unser sensorisches System und im Speziellen unsere so genannten Basissinne:

1. Das propriozeptive System, das heißt die Körpereigenwahrnehmung.
2. Das vestibuläre System, sprich, unsere Gleichgewichts- und Schwerkraftempfindung. Wenn Sie sich beispielsweise nach vorne beugen, um nach etwas zu greifen, oder nach unten, um etwas aufzuheben, wenn Sie einen Ball fangen, wenn Sie rasch Ihren Kopf nach einer Seite drehen, aus der ein Geräusch kommt usw. – dann ist ihr vestibuläres System im Zusammenspiel mit dem propriorezeptiven System aktiv.
3. Das taktile System bezeichnet unser Tast- und Berührungsempfinden: wie wir Wärme, Kälte, Oberflächen usw. wahrnehmen und unterscheiden.

Es gibt ein gutes Schema, das die Wahrnehmungsentwicklung in Form eines Baums darstellt:
1. Die „Wurzeln“ sind Haut, innere Organe, Muskeln, Sehnen und Gelenke sowie das Vestibularorgan, die in einer „Erde“ aus verschiedenen Empfindungen stecken: Berührungs-, Tiefen-, Bewegungs-, Schwerkraft- und Gleichgewichtsempfindung.

2. Der „Stamm“ des Baums sind die Sinnesorgane, mit denen wir unsere Umwelt wahrnehmen – sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Die „Krone“ ist das Endprodukt und der Ausdruck einer „gut“ funktionierenden „sensorischen Integration“. Hier finden alle so genannten höheren Funktionen statt, wie z. B. Konzentration, Sprache, Vorstellungsvermögen, Phantasie, schulische Leistungen … – alles Antworten aus dem Zusammenspiel unserer Sinne.

 

Um die Baum-Metaphorik fortzusetzen: Der Baum kann nicht für sich allein dastehen, sondern ist in ein Umfeld aus Nährstoffen aus dem Erdreich und Sonnenlicht für die Krone eingebunden, die dafür sorgen, dass er sich gut entwickelt und gedeiht.

Nun funktionieren all die erwähnten Faktoren bei niemandem immer zu 100 Prozent gut – aber sie lassen sich verbessern und weiterentwickeln, und das ist der Punkt, wo wir bei Kindern mit Beeinträchtigungen therapeutisch ansetzen. Wir versuchen, sie so zu begleiten, dass sie sich möglichst optimal weiterentwickeln können, sodass sie die Aufgaben des Alltags – Spiel, Lernen, Bewegung, Sprache … – so gut wie möglich meistern können. Unsere Mission ist, sie zu unterstützen – nicht, sie soweit zu bringen, dass sie der Norm entsprechen.

Mit welchen Beeinträchtigungen bzw. Entwicklungsverzögerungen oder -auffälligkeiten sind Sie in Ihrer Praxis typischerweise konfrontiert? 

Ich arbeite mit Kindern ab dem 1. Lebensjahr und bis zu 13, 14 Jahre, Schwerpunkt sind Kinder zwischen 1 und 5. Viele haben noch keine klare Diagnose, aber Entwicklungsauffälligkeiten, sei es motorisch, sprachlich oder kommunikativ. Andere haben bereits Diagnosen wie Autismus-Spektrum-Störungen, Wahrnehmungsentwicklungsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen, Infantile Centralparesen-Bewegungsstörungen oder Syndrome wie das Down-Syndrom. Manche Kinder sind aber auch einfach „nur patschert“!  Diese so genannten ungeschickten Kinder haben oft große Probleme, mit gleichaltrigen Kindern mitzukommen. Mein Ansatz ist: Die Diagnose ist wichtig, aber noch viel wichtiger ist: Wie kann ich das Kind hier und jetzt in seiner Entwicklung unterstützen?

Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine*n neue*n kindliche*n Patient*in bekommen, und welcher Art sind die Therapien?

Zunächst bemühe ich mich um eine diagnostische Abklärung: Was macht das Kind, welche Bedürfnisse, welche Fähigkeiten hat es, wo liegen die Schwierigkeiten bzw. Hindernisse, damit es sich gut entwickelt, welche Schwächen haben seine Sinnessysteme und wie können wir diese stärken. Ich setze wenn möglich standardisierte Tests zur Wahrnehmungsentwicklung und zur motorischen Entwicklung ein sowie Beobachtungen im freien und angeleiteten Spiel, Interview der Eltern und anderer Betreuungspersonen, um ein möglichst umfassendes Bild von den Schwierigkeiten, den Interessen und den Stärken des Kindes zu bekommen. Wenn es beispielsweise bestimmte motorische Schwierigkeiten hat, frage ich mich, welche neurophysiologischen Regelkreise können wir aktivieren, damit es weniger stolpert.

Wir haben hier in unserem Therapieraum eine Menge Seile, Sprossen, Türme, Rutschen und Baumaterialien, es ist ein Bewegungs- und Gleichgewichtsraum, den ich den Bedürfnissen des jeweiligen Patienten anpasse. Aber was ich mit den Kindern mache, ist keine vorgegebene „Übung“, sondern entwicklungsbegleitende Therapie. Von außen betrachtet, sieht es meist aus, als ob wir nur spielen würden. Doch das Spiel, die Interaktion, die Aktivität wird die ganze Zeit an die Bedürfnisse des Kindes angepasst, damit es möglichst „gut“ lernen kann.

Um Ihnen ein Beispiel aus meiner Praxis zu geben: Einer meiner kleinen Patienten ist knapp drei Jahre, er spricht noch nicht, tritt wenig in Kontakt mit seinem Umfeld – aber er läuft sehr viel und repetitiven Routen folgend im Raum herum und kreischt auch viel. Da er wenig interagiert, versucht er offensichtlich stattdessen, mit Hilfe der Bewegungserfahrung Informationen zu bekommen. Ich versuche nun, in Interaktion mit ihm zu treten, indem ich ihn spiegle. Ich gehe gemeinsam mit ihm seine Routen, wir rutschen gemeinsam die Rumpelrutsche hinunter. Aber bevor es vom Start losgeht, halte ich ihn kurz fest, schaue ihm in die Augen und sage begeistert: „Los geht‘s!“. Ich versuche sowohl, ihn zu spiegeln als auch mit ihm zu interagieren. 

Was können Familie und Umfeld beitragen? 

Bei meinen Therapiestunden mit kleinen Kindern sind die Eltern immer mit dabei. Ich versuche in den Stunden, eine Beziehung zum jeweiligen Kind herzustellen, und an diesem Modell können sich die Eltern orientieren, um das ebenfalls zu tun. Sie sollen eingebunden sein und verstehen lernen, was wir in den Therapiestunden tun, wie wir vorgehen. So können sie es bei sich zu Hause, am Spielplatz usw. selbst ausprobieren und umsetzen – denn sie sind der „Boden“, die Basis, von der aus sich die Kinder entwickeln.

Eltern bzw. nahe Bezugspersonen stehen bei ihren Kindern immer vor der Aufgabe, das richtige Verhältnis zwischen Unterstützung und Zulassen von Selbständigkeit zu finden. Mein Motto für sie ist, seid ruhig „good enough mothers“ oder „good enough caregivers“! Ihr müsst nicht perfekt sein! Seid nicht überambitioniert, beherzigt stattdessen das afrikanische Sprichwort „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Unterstützt eure Kinder, wo sie es brauchen – aber helft ihnen nicht, in die Schuhe hineinzukommen, wenn sie es selbst können.

Befürworten Sie die gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Entwicklungsauffälligkeiten?

Das lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern hängt vom jeweiligen Kind und dessen Situation ab. Jedes Kind nimmt seine je eigene Entwicklung. Ich habe zum Beispiel eine kleine Patientin, die motorisch beeinträchtigt, aber kognitiv hervorragend ausgestattet ist: Es wäre ein Vergehen, sie von einer Regelschullaufbahn auszuschließen – sie müsste aber natürlich im Schulalltag entsprechend unterstützt werden. Andere Kinder wiederum werden durch viele Klassenkamerad*innen und Lärm gestresst. Sie halten es nicht aus und fühlen sich in kleineren Gruppen und einem geschützten Umfeld wohler.

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Martina Mückler ist Ergotherapeutin sowie Tanz- und Ausdruckstherapeutin und hat eine Weiterbildung als Kinder-, Jugendlichen- und Elternberaterin bei Ökids absolviert. Sie arbeitet seit 1988 als Kindertherapeutin und orientiert sich u. a. an der Sensorischen Integrationstherapie nach Jean Ayres. Sie ist Mitgründerin und -leiterin der Gemeinschaftspraxis www.schlickgasse4.at in Wien und bietet Abklärung, Beratung und Therapie für Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten an.