Fünf Fragen an den Psychologen und Psychotherapeuten Philipp Schwärzler

Herr Schwärzler, ab welchem Kindesalter werden Streit und Wiederversöhnung zum Thema?

Die beiden treten in der Kindesentwicklung zeitversetzt auf – zuerst der Streit, erst später die Versöhnung. Schon Zwei- bis Dreijährige können im Sandkasten streiten. In dieser egozentrischen, noch nicht sozial orientierten Phase will das eine Kind mit dem Schauferl oder Küberl spielen oder sie einfach mit nach Hause nehmen, unabhängig davon, ob sie ihm gehören. Im Vordergrund steht dabei nicht der Wunsch, sie dem anderen Kind wegzunehmen, sondern, sie für sich selbst zu haben.

Mit vier oder fünf Jahren hingegen wird sowohl gestritten als auch sich wieder versöhnt – wobei es faszinierend ist mitanzusehen, wie schnell sich das abwechseln kann. Von einem Moment auf den anderen sind Kinder bös aufeinander, versöhnen sich, sind wieder bös. In dieser Phase sind Freundschaften noch sehr oberflächlich, sie entstehen und können ganz rasch wieder vorbei sein. 

Auch die Auslöser für Streit ändern sich nach und nach, mit sechs oder sieben Jahren will beispielsweise der eine Fußball spielen, die andere „Mensch ärgere dich nicht“. In einer späteren Phase kommen dann unterschiedliche Ansichten dazu, etwa: Eisbären sind cooler als Tiger. Oder eben umgekehrt.

Sich in sein Gegenüber hineinversetzen zu können ist eine große Leistung in der Persönlichkeitsentwicklung, die langsam und auch erst später entsteht. Mit Fragestellungen wie, was will bzw. braucht der andere, öffnet sich eine „soziale Dimension“, die dann im konkreten Fall zu dem Konsens führt, dass zuerst Fußball und dann „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt wird. Das ist dann schon eine reifere Phase, denn sie impliziert einen „Bedürfnisaufschub“, eine Konzession an den anderen. Einem Kleinkind könnte man damit nicht kommen – dessen Bedürfnis muss sofort befriedigt werden.

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Wie lässt sich Streitkultur erlernen? Welche Rolle kommt Eltern und Pädagog:innen dabei zu? Was halten Sie in dem Zusammenhang von Versöhnungsritualen sowie Wiedergutmachung ?

Streit ist für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig, die Kinder lernen, ihre Bedürfnisse einzubringen, sich durchzusetzen und sich zu wehren. Die Erwachsenen, insbesondere die Eltern, leben vor, wie Konflikte ausgetragen werden, und sind dadurch Vorbilder. Pädagog:innen ihrerseits können unterstützend wirken, moderieren und den Rahmen vorgeben, um sie zu entschärfen.

Das Ziel ist es nicht, Konflikte zu vermeiden, sondern sie auszuhalten und verarbeiten zu können. Dabei kommt alles darauf an, dem Kind zu vermitteln, dass es Trost, Sicherheit und Gehaltenheit bekommt, auch wenn gestritten wird. Streit darf bei ihm keinesfalls die Angst auslösen, dass ihm das alles entzogen wird.

Die Streitigkeiten von Fünf-, Sechs- oder Siebenjährigen sind nicht sehr tiefgreifend, daher fällt die Versöhnung in der Regel leicht. Bei größeren Kindern machen Versöhnungsrituale aber durchaus Sinn. Hier können Themen wie Schuld und Scham sowie die Fähigkeit, sich zu entschuldigen und aus Fehlern zu lernen, ins Spiel gebracht werden. Das setzt aber voraus, dass das Kind bereits eine solide Ich-Stärke ausgebildet hat.

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Beobachten Sie in Ihrer Arbeit als Psychologe und Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche die Tendenz in Familien, dass Konflikte „unter den Teppich gekehrt“ werden, um die vermeintliche familiäre Harmonie nicht zu stören? Wie steht es um die Streitkultur in den Familien?

Konflikte in der Familie auf einem guten Niveau auszutragen erfordert viel Zeit und Energie, Konsequenz und „Dranbleiben“. Da kann es auch Phasen geben, in denen fürs Erste nichts entschieden wird, sondern die Dinge erst einmal so stehen gelassen bzw. „abgekühlt“ werden. Ich habe den Eindruck, dass die Bereitschaft tendenziell abnimmt, sich auf solche länger dauernden Prozesse einzulassen – aus welchen Gründen auch immer.

Wenn in der Familie eine gute Streitkultur gelebt wird, werden sich die Kinder auch in anderen Gemeinschaften wie Kindergarten, Schule oder Sportverein leichter eingliedern können. Zu einer solchen gehören aus meiner Sicht auch Autorität und Hierarchie innerhalb der Familie. Diese Begriffe sind oft negativ konnotiert, aber ich verstehe sie so, dass die Eltern bestimmte Spielregeln bzw. Rahmenbedingungen vorgeben. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie auch selbst viel in die Beziehung zu ihren Kindern einbringen: Sie leisten Bedürfnisverzicht, geben Schutz und Sicherheit. Daher hat es seine Berechtigung, dass sie den Kindern hie und da aufzeigen: Das und das will ich so nicht.

Ich vergleiche Autorität mit einem Geländer: Man könnte es als einschränkend bezeichnen – aber auch als schützend. Kinder, die in der Familie nicht gelernt haben, sich an Spielregeln zu halten, werden es in anderen Kontexten wie den oben erwähnten schwerer haben. Sie laufen eher Gefahr, anzuecken oder Außenseiter zu werden – Konflikte können dann schnell eskalieren.

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Wie wirkt sich eine negative Streitkultur in der Familie, beispielsweise Gewalt, auf die Kinder aus?

Aufbau und Stärkung des Selbstwerts – das ist es, was die Kinder am dringendsten brauchen. Gewalt in der Familie beschädigt ihr Selbstwertgefühl. Wer sie als Kind erfahren hat, wird dann im Laufe seines/ihres Lebens viel Hilfe von außen – durch Pädagog:innen, Bezugspersonen, Psycholog:innen – sowie eigenes Reflexionsvermögen benötigen, um die übernommene Gewaltstruktur überwinden zu können.

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Ist die aktuell vorherrschende gesellschaftliche Polarisierung bzw. Unversöhnlichkeit ein Ergebnis fehlender bzw. negativer Streitkultur, die zu erlernen in der Kindheit bzw. Jugend verabsäumt wurde? Oder liegen einfach nur die Weltanschauungen so weit auseinander?

Dass wir die Möglichkeit haben, die gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit bis in ihre feinsten Verästelungen zu verfolgen und zu diskutieren, ist grundsätzlich ein großer Fortschritt, ja ein Luxus. Ich führe ihn, schematisch gesagt, auf die Eroberung zahlreicher individueller Freiheitsräume durch die 1968er Bewegung – als Überwindung des Totalitarismus der dreißiger und vierziger sowie der Verstocktheit der fünfziger Jahre – zurück.

Auf der anderen Seite haben manche der heutigen Themen das Potenzial, Partikularinteressen über gemeinschaftliche bzw. das gesellschaftliche Ganze zu stellen. Ich sehe die Lösung in einem sinnvollen Ausgleich zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen. Wo die Ersteren alles überwiegen, ist es einfach nur Egoismus.

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Mag. Philipp Schwärzler ist Psychotherapeut und Klinischer Psychologe in Wien mit mehr als 25 Jahren Praxisarbeit im Bereich Kinder, Jugendliche und Familien.