Fünf Fragen an Psychotherapeutin Karn J. Lebersorger

 

Papperlapapp #13  thematisiert ein unangenehmes Gefühl, das wir alle kennen: die Scham. Peinliche Situationen begleiten uns ein Leben lang. Die Psychologin und Psychotherapeutin Karin J. Lebersorger erklärt, wie sich Scham entwickelt und wie sie unser Verhalten steuert – im Sinne eines wichtigen Korrektivs.

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Frau Lebersorger, „Oh wie peinlich“ spricht das Gefühl der Scham an: Warum gibt es dieses Gefühl überhaupt?
Scham ist ein Gefühl, das zum Mensch-Sein gehört und das wir in der frühen Kindheit erstmals empfinden. Sobald ein Kleinkind selbstständig die ersten Schritte gehen kann, will es seine Welt erobern. Dabei überschätzt es sich manchmal oder macht Dinge, die seine Eltern nicht gut finden. Wenn sie das Kind eingrenzen oder zurechtweisen, wird in dieser Situation ein Schamgefühl ausgelöst. Dies ist oft mit Hitze, Erröten oder dem Senken des Blicks verbunden. Somit entsteht Scham zuerst in der Beziehung zu den wichtigsten Bezugspersonen, meist den Eltern. Es wird in der Folge verinnerlicht und tritt unabhängig von der Beurteilung der eigenen Handlungen durch Andere auf. Eine auf eine bestimmte Situation bezogene Scham hat eine korrigierende, begrenzende und sich selbst regulierende Funktion – und ist von ständigem Kritisiert-werden, das zu einem Grundgefühl der Scham und damit verbundenem Selbstzweifel führen kann, zu unterscheiden.
Das Spannungsfeld zwischen Autonomie einerseits, und Scham und Zweifel andererseits, in dem sich jeder Mensch ab seinem 2. Lebensjahr befindet, wurde erstmals im psychosozialen Modell von Erik Erikson beschrieben. Für eine gesunde psychische Entwicklung ist es wichtig, dass die Wünsche nach Selbstständigkeit und dem Erobern der Welt überwiegen – und nicht durch ein Übermaß an Scham gehemmt werden.

Gibt es Menschen ohne Schamgefühl? Immerhin kennt die Sprache das Wort „schamlos“.
Schamlosigkeit tritt dann auf, wenn Eltern ihre Kinder nicht begrenzen und ihnen nicht sagen, dass ihr Verhalten unpassend ist: So können Kinder keinen achtsamen Umgang mit anderen und gegenüber der Welt entwickeln. Solche Menschen fühlen sich überlegen, sind rücksichtslos, wollen im Mittelpunkt stehen und können sich in andere nicht einfühlen.

Kann man sagen, dass Peinlichkeitsgefühle in freieren Gesellschaften weniger ausgeprägt sind als in anderen? Oder sind die Unterschiede rein individuell?
Verschiedene Kulturen haben ganz unterschiedliche Vorstellungen und Wertvorstellungen vom Verhalten des einzelnen Menschen, der Familie und der Gesellschaft. Diese zeigen sich in Vorschriften und Ritualen des Umgangs miteinander. So blickt man sich in manchen Kulturen in die Augen, wenn man sich begrüßt, in anderen senkt man den Blick. Vermeiden des Blickkontakts ist oft auch zwischen Frauen und Männern geboten. In Japan, China und Ländern des Mittleren Ostens spielt Scham im Zusammenleben eine bedeutsamere Rolle als in den westlichen Industrieländern. Dabei sind aber auch nicht alle Menschen innerhalb einer Kultur gleich.

Inzwischen als veraltet geltende Erziehungsstile setzen die Formulierung „Schäm´ Dich!“ als pädagogisches Mittel ein: Kinder, die sich unangepasst/unpassend verhalten, sollen sich selbst peinlich sein. Wie wirken sich solche Bezichtigungen auf die psychische Entwicklung von Kindern aus?
Wenn Eltern und andere nahestehende Personen Kinder ständig beschämen, stellt sich Scham als Grundgefühl ein, was für die Persönlichkeitsentwicklung ganz schlecht ist. Dann können Kinder sehr verlegen und gehemmt werden, an ihren Ideen und ihrem Verhalten zweifeln und körperlich angespannt und ängstlich sein. Meist verhalten sich Erwachsene in dieser Weise, weil sie selber als Kinder erniedrigt wurden. Sie geben es – ganz ohne darüber nachzudenken – an ihre Kinder weiter.
Scham sollte ein Kind nur in Verbindung mit einer Situation, in der es etwas Unpassendes gemacht hat, empfinden (müssen). Hilfreich ist, wenn Erwachsene mit dem Kind darüber sprechen und ihm die Möglichkeit geben, seinen Fehler wiedergutzumachen.

Verraten Sie uns eine Situation, die Ihnen vor Kurzem unangenehm war? Wie gehen Sie mit Peinlichkeiten um?
Ich erinnere mich, dass es mir schon ein paar Mal passiert ist, dass ich den Namen einer Person, die ich kenne, nicht erinnerte – was mir peinlich war. Scham kam auf, indem ich selber den Anspruch an mich stellte, diesen Namen zu wissen. Das stresste mich während des Gesprächs. Mittlerweile frage ich, je nach Situation, nach oder beruhige mich, indem ich mir versichere, dass es nur allzu menschlich ist, nicht perfekt zu sein!

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Dr. Karin J. Lebersorger, Klinische- und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (WPV/IPA) und Supervisorin. Standortleiterin Institut Nord des Instituts für Erziehungshilfe (Child Guidance Clinic) Wien, Mitarbeiterin der Down-Syndrom Ambulanz des Krankenhauses Rudolfstiftung, freie Praxis, nominiertes Mitglied der Arbeitsgruppe „Qualitätssicherung frühe Kindheit“ der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. Lektorin an der Wiener Psychoanalytischen Akademie, der FH Campus Wien, Studiengänge Soziale Arbeit und Logopädie-Phoniatrie-Audiologie.

Publikationen zu den Themen Entwicklungspsychologie, Erziehung, Psychoanalyse, Psychotherapie, Reproduktionsmedizin, Behinderung, Down Syndrom. Mitautorin der “Stellungnahme der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit zum Änderungsentwurf des Fortpflanzungsmedizinrechts-Änderungsgesetzes (FMedRÄG 2015)“.